- Weimarer Republik: Deutschland bis 1933
- Weimarer Republik: Deutschland bis 1933Kriegsende und RevolutionEs ist deutlich geworden, dass Italien und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg in ihrer Entwicklung verschiedentlich Parallelen aufweisen. In beiden Ländern wurde der Kriegsausgang als nationale Demütigung wahrgenommen. Unter dem Diktat der westeuropäischen Großmächte und der USA zu stehen, war in beiden Ländern — in Deutschland infolge des Versailler Vertrags noch mehr als in Italien, wo man nur über den glanzlosen Sieg enttäuscht war — ein Grundgefühl, das breite Massen für antiwestliche Vorstellungen aufnahmebereit machte. Antiwestlich — das bedeutete Ablehnung von parlamentarischer Demokratie und gesellschaftlichem Pluralismus, aber auch von Marktwirtschaft. Der Westen konnte auch als der kapitalistische Westen abgelehnt werden. In überaus komplexer Weise und mit unterschiedlichen Akzentsetzungen konnten sich nationaler und sozialer Protest vermischen, was wiederum scharfe innenpolitische und innergesellschaftliche Frontenbildungen nach sich ziehen konnte. Sozialer Protest konnte auch zu einer Negierung des Nationalen führen, wie es bei der extremen Linken der Fall war, die die sozialistische Weltrevolution und die damit verbundene Aufhebung von Klassengegensätzen als erstrebenswertes Ziel begriff. Mit einem Wort: Die Nachkriegszeit zeichnete sich durch die Vermischung und Überlagerung von inneren und äußeren Konflikten aus. Wie in Italien wurden sie auch in Deutschland zum Teil gewaltsam, ja zum Teil mit äußerster Brutalität ausgetragen.Zunächst war die Novemberrevolution 1918 in Deutschland allerdings von dem Bedürfnis getragen, vor allem der kriegerischen Gewalt ein Ende setzen zu wollen. Es war die allgemeine Kriegsmüdigkeit und kein revolutionärer Impetus, der das Wilhelminische Deutschland und die Fürstenhäuser in den Ländern hinwegfegte. Politisch organisiert war die Umsturzbewegung überwiegend in der Mehrheitssozialdemokratie, auf deren Vorsitzenden Friedrich Ebert der letzte kaiserliche Reichskanzler die Regierungsgewalt übertragen hatte. Hinzu kam die Unabhängige Sozialdemokratie (USPD), die sich 1917 von der SPD abgespalten hatte. Beide Parteien bildeten eine Übergangsregierung, den Rat der Volksbeauftragten. Für die Mehrheit der so organisierten politischen Kräfte sollte es sich deshalb um eine Übergangsregierung handeln, weil so schnell wie möglich demokratische Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung durchgeführt werden sollten. Eine linke Minderheit war daran weniger interessiert. Sie wollte vor allem Sozialisierungsmaßnahmen durchgeführt wissen, um nicht nur politischen, sondern auch strukturellen Wandel und die Entmachtung der bisherigen Eliten zu erreichen.Wandel und KontinuitätAngesichts der innergesellschaftlichen Gegensätze und der ausweglos erscheinenden außenpolitischen Lage lehnten die Mehrheitssozialdemokraten alles ab, was nach Revolution »roch«. Realistischerweise plädierten sie für schrittweisen und vorsichtigen Wandel. Sozialisierung müsse am Ende eines längeren Prozesses stehen und könne nur im Zuge von parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen herbeigeführt werden. So dachten auch die Gewerkschaften, die im November 1918 ein Abkommen mit der Unternehmerschaft schlossen, mit dem sie schon lange verfolgte Ziele wie die Koalitionsfreiheit, das Recht zum Abschluss kollektiver Arbeitsverträge und nicht zuletzt den Achtstundentag festschreiben konnten. Friedrich Ebert steuerte eine Zusammenarbeit mit den alten Kräften an, nicht zuletzt mit dem Militär, um die innere Ordnung zu gewährleisten. Daraus ergab sich über den Staatsumsturz vom November 1918 hinaus in Verwaltung, Justiz, Militär, Wirtschaft und Bildung ein Maß an Kontinuität, über dessen Umfang und Notwendigkeit kontrovers debattiert wurde und zum Teil noch heute wird. Für die USPD war es ein Grund, schon Ende Dezember wieder aus dem Rat der Volksbeauftragten auszuscheiden. Darüber hinaus gründeten Teile der USPD und andere linksextreme Gruppen an der Jahreswende 1918/19 die KPD.Wie umkämpft die politische Ordnung in Deutschland war, zeigte sich schon im Januar 1919, als der Spartakusaufstand, der auf die Revolutionsbereitschaft von Teilen der Arbeiterschaft in Berlin zurückging, Kämpfe mit Bürgerkriegscharakter einleitete, die an verschiedenen Punkten des Reichsgebiets bis 1923 immer wieder stattfanden. Die prominentesten Opfer der Januarkämpfe waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die von Freikorpsoffizieren ermordet wurden. An der Niederschlagung des Aufstands in Berlin und weiterer Unruhen in anderen Städten waren nämlich nicht nur reguläre Armeeeinheiten beteiligt, sondern auch Freikorps, die als Freiwilligenverbände von der Regierung gegen linke Aufständische eingesetzt worden waren. Mit besonderer Brutalität — es gab Hunderte von Toten — warfen sie die Münchener Räterepublik nieder, die im April 1919 ausgerufen worden war.Nationalversammlung und politische UnruhenZu diesem Zeitpunkt war die am 19. Januar 1919 nach dem allgemeinen Wahlrecht, in das erstmals auch die Frauen einbezogen waren, gewählte Nationalversammlung in Weimar zusammengetreten. Dorthin hatte sie sich zurückgezogen, um dem unruhigen Berlin zu entgehen. Die Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP (Deutsche Demokratische Partei) hatte eine breite Mehrheit. Mit dem »Gesetz über die vorläufige Staatsgewalt« vom 10. Februar 1919 war der im November 1918 eingeleitete Staatsumsturz im Wesentlichen abgeschlossen. Das Deutsche Reich, wie die offizielle Bezeichnung der Weimarer Republik lautete, hatte seit dem 11. Februar mit Friedrich Ebert einen von der Nationalversammlung gewählten Reichspräsidenten und seit dem 13. Februar eine unter der Führung von Philipp Scheidemann (SPD) stehende Regierung, die im Unterschied zum Rat der Volksbeauftragten parlamentarisch legitimiert war. Doch wie sich die Republik würde behaupten können, musste sich erst noch zeigen. Die antirepublikanische Rechte hielt sich bedeckt und nahm in der Kampfsituation des Jahres 1919 das neue politische System zunächst einmal hin. Eine akute Gefahr ging für sie von der sozialen Revolutionsbewegung der oppositionellen Massen aus, die nach Beendigung der Kriegswirtschaft unter Arbeitslosigkeit litten und mit dem Verbleib vieler alter Führungskräfte in Politik und Wirtschaft nicht einverstanden waren. An verschiedenen Stellen — mit Schwerpunkten im Ruhrgebiet, in Mitteldeutschland und in Berlin — kam es zu Unruhen, Streiks und auch zur Bildung revolutionärer Arbeiterräte, um eine alternative politische und soziale Ordnung zu begründen. In der Hauptstadt entluden sich die Konflikte im März 1919 in der »Berliner Blutwoche« mit 1200 Toten.Parallel zu diesen Unruhen war die Nationalversammlung in Weimar damit befasst, die Verfassung auszuarbeiten und über den von den Siegermächten vorgelegten Friedensvertrag zu entscheiden. Die Verfassung sah Reichstag und Reichspräsident als Gegengewichte vor. Dem nach dem reinen Verhältniswahlrecht gewählten Reichstag stand ein direkt gewählter Reichspräsident gegenüber, der im Krisenfall weitgehende Vollmachten an sich ziehen konnte. Nach der Inkraftsetzung der Verfassung im August 1919 hätte sich die Nationalversammlung auflösen und Wahlen für den Reichstag ausschreiben können. Doch hielt die Regierung die innenpolitische Lage noch nicht für stabil genug, sodass die Wahlen erst ein knappes Jahr später erfolgten. In der Tat war das erste Halbjahr 1920 von politischen Erschütterungen erfüllt. Es begann im März mit dem Kapp-Putsch (Kapp-Lüttwitz-Putsch).Putschversuch von rechtsGeneral Walther von Lüttwitz wollte die durch den Versailler Vertrag bedingte und von der Regierung verfügte Truppenverminderung und Auflösung der Freikorps nicht hinnehmen und stellte seine Truppen einem rechtsextremen Verschwörerkreis zur Verfügung. Nach dem Einmarsch in Berlin wurde Wolfgang Kapp zum Reichskanzler ausgerufen, doch mussten die Putschisten nach wenigen Tagen aufgeben, weil sie sich mit einem Generalstreik und mit einer zunächst einmal abwartenden staatlichen Bürokratie konfrontiert sahen. Bemerkenswert war, dass sich die Reichsregierung nicht nur putschenden Truppenteilen gegenüber sah, sondern auch von der Reichswehrführung praktisch im Stich gelassen wurde. »Truppe schießt nicht auf Truppe«, war von General Hans von Seeckt zu hören, dem Chef des Truppenamts und künftigen Chef der Heeresleitung. Geschossen wurde aber sehr wohl auf linke Putschisten, die sich in Sachsen, Thüringen und an der Ruhr als Reaktion auf den Kapp-Putsch noch einmal — auch militärisch — formierten und die Revolution vorantreiben wollten. Mit dem Scheitern auch dieses Versuchs, das parlamentarische System von Weimar zu beenden, waren die gewaltsamen revolutionären und gegenrevolutionären Auseinandersetzungen in Deutschland an ihr vorläufiges Ende gekommen. In weiten Teilen der Arbeiterschaft, die den Umbau des Staates 1918 erzwungen hatte, herrschte eine tiefe Enttäuschung, denn die bisherigen sozialen Errungenschaften der Weimarer Republik waren in ihren Augen mehr als bescheiden. In den ersten Reichstagswahlen im Juni 1920 verlor die SPD rund 16 Prozent. Der Anteil der Weimarer Koalition (SPD, DDP, Zentrum) ging auf 44,6 Prozent zurück. Dafür stellte sich aber die rechtsliberale DVP (Deutsche Volkspartei) mit Gustav Stresemann an ihrer Spitze auf den Boden der Republik. Für das Überleben der Weimarer Republik war ausschlaggebend, dass es genügend Vernunftrepublikaner gab, denen die Republik keine Herzenssache war, die aber um des Staates willen das neue Regime mittragen wollten.Werbung für die Republik war angesichts der massiven Vorbehalte und Angriffe gegen sie dringend nötig. Immer klarer zeigte sich, dass die größte Gefahr für ihren Bestand von der politischen Rechten drohte. Deren Hetzkampagne gegen führende Politiker der Republik schlug sich auch in politischen Morden nieder. Zu den bekanntesten Opfern gehörten Matthias Erzberger und Walther Rathenau. Wie ausgeprägt die Sympathie für die extreme Rechte war, lässt sich daran ablesen, dass die Täter überwiegend mit milden Urteilen rechnen konnten. Rathenau hatte sich den Hass der Rechten zugezogen, weil er die Erfüllungspolitik betrieb. Die aus dem Versailler Vertrag resultierenden Forderungen sollten erfüllt werden, um in Kooperation — nicht in Konfrontation — mit den Siegermächten zu einer Revision des Versailler Vertrags kommen zu können. Der tödliche Hass auf Rathenau richtete sich aber auch auf ihn als deutschen Juden. »Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!« Wenn man auch aus solchen radikalen Sprüchen nicht unbedingt ableiten kann, dass die meisten Deutschen auf dem rechten Spektrum die Juden töten wollten, so besteht aber kein Zweifel daran, dass eindeutige antisemitische Einstellungen bis weit in die politische Mitte anzutreffen waren.Das Krisenjahr 1923In die tiefste Krise nach ihrer Gründung geriet die Republik 1923, als sie von außen und innen gleichermaßen bedroht wurde. Die äußere Bedrohung ging von der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen aus. Sie erfolgte, um ein »produktives Pfand« in die Hand zu bekommen. Der Anlass waren geringfügige Rückstände bei fälligen Lieferungen an Frankreich, allerdings vor dem Hintergrund, dass von deutscher Seite Zahlungsunfähigkeit signalisiert wurde und das Ende der Erfüllungspolitik bevorzustehen schien. Für Frankreich bot sich im Laufe der Ruhrkrise darüber hinaus die Chance, den Versailler Vertrag nachzubessern und durch die Unterstützung des Separatismus im Rheinland und in der Pfalz die Integrität des Reichsgebiets anzutasten. Berlin reagierte auf die Besetzung mit der Ausrufung des passiven Widerstands, eine politisch-psychologisch nahe liegende Reaktion, die aber gegen die französische Übermacht nichts erreichen konnte und zudem auf die Dauer nicht zu bezahlen war. Die schon 1922 hochgeschnellte Inflation stieg 1923 noch einmal ins Unermessliche.Eine Lösung war nur zu erreichen, wenn die USA und Großbritannien mit ihrem Interesse an politischer Entspannung und wirtschaftlicher Kooperation für die deutsche Sache gewonnen werden konnten. Voraussetzung dafür war aber der Abbruch des passiven Widerstands, in den Augen der nationalistischen Rechten eine zweite Kapitulation nach dem Muster von Versailles. Genau diesen Weg aber ging Gustav Stresemann, der im August 1923 für rund hundert Tage Reichskanzler wurde, bevor er bis 1929 das Amt des Außenministers übernahm und der deutschen Politik seinen Stempel aufdrückte. Stresemann wollte zunächst einmal die Realitäten anerkennen, um dann mit den Siegermächten über ihre Veränderung zu verhandeln. Die Revision des Versailler Vertrags blieb auch für Stresemann auf der Tagesordnung, was aber die politische Rechte nicht anerkannte.Die Republik profitierte davon, dass die Rechte uneins über das politische Vorgehen war. In Bayern, das zu einem Sammelbecken verschiedenster rechter Republikgegner geworden war, ließ sich dies besonders gut beobachten. Dort standen Putschisten wie Adolf Hitler, der nach italienischem Vorbild einen Marsch nach Berlin unternehmen wollte, der ebenfalls republikfeindlichen Regierung von Gustav Ritter von Kahr gegenüber. Diese lag auf der Linie der Reichswehrführung, die in ihrer abwartenden Gegnerschaft zur Republik auf einen Putsch von links warten wollte, um dann quasi legal eine Militärdiktatur errichten zu können. In der Tat verfolgten die Kommunisten Aufstandspläne, die am 23. Oktober 1923 in Hamburg zum Losschlagen führten. Aber innerhalb von zwei Tagen hatte die Polizei die Situation unter Kontrolle. Noch schneller war der Hitlerputsch in München am 8./9. November beendet. General von Seeckt an der Spitze der Reichswehr, des entscheidenden Machtfaktors in jeder gewaltsamen inneren Auseinandersetzung, begnügte sich damit, dass Ebert ihm die vollziehende Gewalt übertrug, die er bis Ende Februar 1924 behielt.Relative StabilisierungDie vorläufige Rettung der Republik kam von außen und hieß Neuregelung der Reparationsfrage durch den Dawesplan und amerikanische Kredite für die wirtschaftliche Stabilisierung in Deutschland, was eine politische Beruhigung, wenn auch keine wirkliche Stabilisierung nach sich zog. Es begannen die »Goldenen Zwanziger«, die sich zwar vom Krisenjahr 1923 deutlich unterschieden, deren Fundamente aber höchst unsicher waren. Der Aufschwung hing vom Strom amerikanischen Kapitals und von der amerikanischen Investitionsbereitschaft ab. Wie instabil die deutsche Wirtschaft insgesamt blieb, lässt sich anhand der Arbeitslosigkeit erkennen. Sie betrug 1926 zehn Prozent und betraf zwei Millionen Menschen. Im Winter 1928/29 waren es drei Millionen. Hätte mehr Zeit über 1929 hinaus, als die Weltwirtschaftskrise alles zusammenbrechen ließ, zur Verfügung gestanden, hätte sich vielleicht auch ein konsolidierter Aufschwung entwickeln können, der auch das Maß der Zustimmung zum parlamentarischen System vergrößert hätte. Wie kräftig die Kontinuitätsstränge aus der Zeit vor 1918 und die Symbolkraft des Kaiserreichs noch waren, zeigte sich 1925, als mit dem Ex-Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg ein »Ersatzkaiser« zum Reichspräsidenten gewählt wurde. Aber Mitte der Zwanzigerjahre war noch nichts entschieden. Die Weimarer Republik war keine Einbahnstraße zur Niederlage der Republik und schon gar nicht zur nationalsozialistischen Diktatur. Doch Stresemanns Ziel, die »Verständigungspolitik« nach außen mit der »Konsolidierung der Republik« zu verbinden, war noch nicht erreicht, als die Phase des vorsichtigen Stabilitätszuwachses 1928/29 zu Ende ging. Die Waage sollte sich zugunsten der politischen Rechten neigen.Stresemanns Bedeutung für die deutsche Politik bestand darin, sie auf Nüchternheit und wirtschaftliche Rationalität auszurichten. Die Zeit der »großen Worte« sollte vorbei sein. Sie befriedigten das nationale Ehrgefühl, brachten aber keine materiellen Verbesserungen. Stresemann gelang es, Deutschland mit dem Vertragswerk von Locarno (1925) und dem Eintritt in den Völkerbund (1926) in den Kreis der Großmächte zurückzuführen und zugleich schrittweise die Revision des Versailler Vertrags zu betreiben, wenn sie ihm auch nicht schnell genug vorankam. Seine Grundorientierung an den westlichen Großmächten führte dazu, dass die Beziehungen zur Sowjetunion von nachrangiger Bedeutung waren. Er pflegte zwar die Handelsbeziehungen zur Sowjetunion und unterband auch nicht die geheime Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee, er wollte aber ein Wiederaufleben des Geists von Rapallo verhindern, mit dem sich 1922 deutsch-sowjetische Sonderbeziehungen anzubahnen schienen.Weltwirtschaftskrise und Aufstieg der NSDAPZweifellos war die mit dem New Yorker Börsenkrach im Oktober 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise das größte Problem in der deutschen und internationalen Politik der Zwischenkriegszeit. Die noch nicht gefestigte Weimarer Republik sah sich durch wirtschaftlichen Niedergang und soziale Verelendung Belastungen ganz neuer Art ausgesetzt. Das Anwachsen der extremen Linken und Rechten gehörte zu den politischen Folgen. Nicht übersehen werden darf aber, dass längst vor der Weltwirtschaftskrise Überlegungen im Umfeld des Reichspräsidenten und der Reichswehr angestellt wurden, wie die politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland weiter nach rechts verschoben werden könnten, das Land also ohne die SPD regiert werden könnte.Verhängnisvoll in dieser Konstellation war, dass die bürgerlichen Parteien nicht nur ohne die SPD regieren wollten, sondern dass sie auch einem vom Reichspräsidenten ausgehenden Trend erlagen, gegen das Parlament zu regieren und damit das parlamentarische System zu verändern. Der Bruch der Großen Koalition im März 1930, als keine Einigung über die notwendig gewordene Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erzielt werden konnte, leitete die Serie von Präsidialkabinetten ein, die ohne parlamentarische Mehrheit vom Reichspräsidenten abhängig waren. Die von dem Zentrumspolitiker Heinrich Brüning geführte Regierung hatte hauptsächlich zwei Aufgaben. Sie sollte die Revision des Versailler Vertrags entschiedener als bisher vorantreiben, und sie sollte in ihrer Konfrontation mit der Linken zugleich die extreme Rechte zähmen, um den auch von rechts infrage gestellten Führungsanspruch der traditionellen Führungsschichten in Verwaltung, Militär, Wirtschaft und Gesellschaft dauerhaft zu sichern. Als die NSDAP zu stark geworden war, wollte man dieses Ziel in Zusammenarbeit mit ihr erreichen, musste aber schließlich hinnehmen, selbst von den Nationalsozialisten dominiert zu werden.Wie schnell der Handlungsspielraum gegenüber der NSDAP zusammenschmelzen konnte, erlebte die Regierung Brüning schon 1930. Als sich im Reichstag keine Mehrheit für eine Politik fand, die zulasten der arbeitenden Massen Konsumsteuern einführte und Sozialleistungen kürzte, machte der Reichspräsident von seinem Notverordnungsrecht Gebrauch, was ebenfalls auf die Ablehnung des Reichstags stieß. Daraufhin wurde der Reichstag aufgelöst. Die Neuwahlen im September 1930 brachten den parlamentarischen Durchbruch der NSDAP, deren Abgeordnetenzahl von 12 auf 107 anstieg.Hitlers WählerpotenzialeWoher waren Hitlers Wähler gekommen? Die größten Erfolge hatte die NSDAP in kleineren Städten und auf dem Land in den überwiegend protestantischen Gebieten Nord- und Ostdeutschlands. Statistisch betrachtet waren Protestanten empfänglicher für die NS-Propaganda als Katholiken. Dasselbe galt für die in der Wirtschaftskrise vom sozialen Abstieg bedrohten Mittelschichten. Handwerker, Geschäftsleute und andere Selbstständige, Bauern, Beamte und Ruheständler waren unter den nationalsozialistischen Wählern im Vergleich zur Arbeiterschaft überproportional stark vertreten. Auch in den Oberschichten konnte sich die NSDAP eines gewissen Zuspruchs erfreuen. Insgesamt verhielten sie sich aber zunächst eher abwartend. Erst ab 1932 dachten die alten Eliten genauer über eine Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten nach. So wenig der Großindustrie oder den Agrarverbänden an der Erhaltung der parlamentarischen Republik gelegen war, so skeptisch waren sie doch gegenüber der in ihren Augen plebejischen Massenbewegung der NSDAP, die nicht nur, was durchaus gern gesehen wurde, der politischen Linken den Kampf angesagt hatte, sondern auch einen Angriff auf die gesellschaftlichen Hierarchien insgesamt darzustellen schien. Infolgedessen war die Großindustrie vor 1933 recht zurückhaltend mit finanziellen Zuwendungen an die NSDAP.Die gestärkte NSDAP ließ sich nicht in die Rolle des Juniorpartners der Regierung Brüning drängen. »Wir stehen kampfgerüstet zum Marsch ins Dritte Reich«, notierte der Chefpropagandist der NSDAP, Joseph Goebbels, im Januar 1931. Aus der Sicht der nationalsozialistischen Führung, die nicht wissen konnte, wie lange ihre Bewegung eine Massenbewegung bleiben würde, dauerte es allerdings viel zu lange. Wo die Grenzen der Wählerzustimmung lagen, zeigte sich 1932, als Hitler vergeblich versuchte, zum Reichspräsidenten gewählt zu werden, und die NSDAP zwar stärkste Partei im Reichstag wurde, mit 37,3 Prozent aber an die Obergrenze ihres Stimmenanteils stieß. Da der alte und neue Reichspräsident Paul von Hindenburg, der sogar die Unterstützung der SPD erhielt, um Hitler als Staatsoberhaupt zu verhindern, sich weigerte, eine Ernennung Hitlers zum Reichskanzler in Betracht zu ziehen, und Hitler es ablehnte, in eine nicht von ihm geführte Regierung einzutreten, blieb abzuwarten, wie Deutschland regiert werden sollte. Die deutsche Konsum- und Produktionsgüterproduktion erreichte derweil ihren Tiefststand; die Arbeitslosenzahlen bewegten sich zwischen fünf und sechs Millionen auf dem Höchststand. Die Regierung Brüning verfolgte eine Politik des Sparens und, wie manche dachten, des Gesundschrumpfens, um der Krise Herr zu werden, vielleicht auch, um die Krise im Sinne der eigenen politischen Ziele zu nutzen.Nach der Entlassung Brünings gab es noch zwei Übergangsregierungen mit Franz von Papen und Kurt von Schleicher als Reichskanzler, ehe Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde. Kurz vorher war die NSDAP in nervöser Anspannung und keineswegs siegessicher gewesen. Aber die wachsende Bereitschaft der nicht nationalsozialistischen Rechten, die NSDAP an der Regierung zu beteiligen, und nicht zuletzt die Intrigen und Eifersüchteleien der konservativen Republikgegner untereinander führten schließlich zu einer nationalsozialistisch geführten Regierung. Symptomatisch war im November 1932 eine an Hindenburg gerichtete Eingabe von führenden Persönlichkeiten aus der Wirtschaft, die für die Ernennung Hitlers, des »Führers der größten nationalen Gruppe«, zum Reichskanzler eintraten. Auch in der Reichswehr wurde so gedacht. Man hegte für die Nationalsozialisten an sich keine sonderliche Sympathie, wollte sie aber in der akuten Situation an der Regierung beteiligen. Was die Nationalsozialisten als »Machtergreifung« feierten, war in Wirklichkeit ein Machtkartell. Jetzt komme es darauf an, »die Macht zu behaupten«, schrieb der bald zum Propagandaminister ernannte Goebbels in sein Tagebuch. Er ahnte vielleicht, dass Hitlers Bündnispartner ihn in der Absicht gerufen hatten, ihn »einzurahmen« und zu »zähmen« und nach Möglichkeit auch bald wieder loszuwerden. Mit dieser Illusion stand die alte Rechte keineswegs allein. Auch die Linke unterschätzte die Dynamik, die von der NSDAP ausgehen sollte. Hitler hat die Macht am 30. Januar 1933 nicht ergriffen, aber die Voraussetzungen für den in der Folgezeit stattfindenden Prozess der »Machtergreifung« waren geschaffen.Prof. Dr. Gottfried NiedhartWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Nationalsozialismus: Deutschland unterm HakenkreuzKolb, Eberhard: Die Weimarer Republik. München 41998.Winkler, Heinrich August: Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1998.
Universal-Lexikon. 2012.